Am 28. November 2024 durften wir insgesamt über 200 Gäste vor Ort im Zuse-Institut Berlin und online im Stream zur 11. digiS Jahreskonferenz „Schwinde(l)nde Ressourcen im 21. Jahrhundert: KI als Heilsversprechen?“ begrüßen. Wie jedes Jahr waren der Austausch, die Unterstützung und die Impulse aus unserem Netzwerk immens bereichernd und wir danken nochmal ganz herzlich allen Beitragenden, Teilnehmenden, Zuhörenden und im Hintergrund Rumwuselnden sowie allen, die sich in dieser Aufzählung nicht wiederfinden.
Begrüßungen und „das Übliche“
Nach einer Runde Kaffee und Netzwerken starteten wir fast pünktlich und mit einer fast choralen Begrüßung durch Anja Müller und Beate Rusch vom digiS-Team in den Konferenzmorgen. Anja Müller, ihres Zeichens digiS-Koordinatorin, erinnerte uns nochmal an den Auftrag des Forschungs- und Kompetenzzentrum Digitalisierung Berlin: „[…] dieses vielfältige kulturelle Gedächtnis der Stadt und des Landes digital öffentlich zugänglich zu machen und es vor allem auch digital dauerhaft verfügbar vorzuhalten.“
Beate Rusch, digiS‘ stellvertretende Leiterin, ergänzte ein paar Leitlinien: „Digitalisierung ist kein ‚nice to have‘, kein hübsches Add-on, […] es ist ein zweites Standbein! […] Nachhaltige Investitionen sind uns wichtig, Schnellschuss-Digitalisierungen sind uns ein Graus.“ In diesem Sinne verortete Anja Müller das Thema der Tagung „KI und Kulturelles Erbe“: „Wir wollen […] dazu beitragen, dass sich der Hype um dieses Thema weiter versachlicht zu einer Diskussion auf Basis von profunden Informationen und Wissen.“
Vergangenes Jahr war Berlins Kultursenator Joe Chialo erst wenige Tage im Amt und durfte seinen Dienst unter anderem gleich mit dem großen Fest der Nullen und Einsen zu 10 Jahren digiS beginnen und so Förderprogramm und Kompetenzzentrum am Zuse-Institut Berlin ausführlich kennenlernen. Schon 2023 durchzog der KI-Hype die unterschiedlichen Themenfelder der Konferenz.
„Das Thema der diesjährigen Veranstaltung hingegen – ‚KI als Heilsversprechen?‘ – blickt nun deutlich stärker in die Zukunft, ist doch das Thema ‚künstliche Intelligenz‘ in allen Bereichen des Lebens aktuell und auch nicht zuletzt bei uns hier in der Kultur“ kontextualisierte der Senator. „Die Anwendungsmöglichkeiten dieser neuen Technologie im Bereich des Kulturerbes können sich nur entfalten, wenn sie auch mit fundiertem Wissen zu Möglichkeiten und Grenzen von ‚KI‘ einhergehen. Dazu führte digiS wieder zahlreiche Aktivitäten durch […]. Diese Veranstaltungen tragen dazu bei, den Kompetenzaufbau in den Berliner Institutionen des kulturellen Erbes zum Thema Digitalisierung voranzubringen. Digitalisierung und ‚KI‘ gewinnt immer noch an Bedeutung – den Nutzen, den die Schulungen, Workshops und Vermittlungsangebote von digiS in diesem Bereich bringen, kann man nicht hoch genug schätzen!“ Über diese Worte freuen wir uns heute noch außerordentlich.
KI → [Effizienz|Effektivität|Gesinnung] × [Messen|Beeinflussen|Kontrollieren]
…Hä?
Unser Abteilungsleiter und Lieblingsmathematiker Thorsten Koch legte mit seinem Einführungsvortrag den inhaltlichen Grundstein für den Tag, indem er die Möglichkeiten, aber auch die Grenzen von ‚KI‘ aufzeigte.
Prof. Dr. Thorsten Koch sagt dazu selbst: „Haben Sie mal ein Mathematikbuch gelesen? Das fängt an [mit]: Satz → Beweis; Satz → Beweis. Ein Satz, der nicht hinterher bewiesen ist, ist überhaupt kein Satz, das ist eine Vermutung! […] Die Mathematiker hofften […] immer, dass sie ein komplettes Gebilde von Wahrheit schaffen können, in dem alles zusammenhängt und dann kam Gödel und hat diesen Traum vernichtet und gezeigt, dass es selbst in der Mathematik – obwohl es ein komplett künstliches Konstrukt ist – Sätze gibt, die wahr sind, aber [die] man nicht beweisen kann.“
Hier kann der gesamte Vortrag nachgeschaut werden (das richtige Video startet etwas später bei 00:03):
Was will uns Prof. Dr. Thorsten Koch denn nun damit sagen? „Das Wichtigste ist, die Verantwortung bzw. Haftung für KI-gesteuerte Handlungen zu klären.“ Und „Neuronale Netze sind statistische Verfahren und generieren deshalb meistens plausiblen Durchschnitt, im Einzelfall aber auch sehr abstruse oder gefährliche Dinge.“ Sein Tipp für Kulturerbe-Institutionen, die den Anfang mit ‚KI‘ suchen: „Der erste Schritt ist es, sich zu überlegen ‚wo mache ich immer das Gleiche, das Übliche?‘“ und auf die sehr gute Frage aus dem Publikum, ob die KI nicht mal die Meetingteilnahme übernehmen könnte: „So, wie die ‚KI‘ ist, […] löst sie uns nicht unsere fundamentalen Probleme!“…aber sie kann uns produktiver machen.
Ganz schön viel Text, wa? Die Vortragsfolien von Prof. Dr. Koch können Sie unter CC BY 4.0 hier nachlesen.
‚KI‘ und Kulturerbe in Berlin. Oder: „Seid ihr ‚KI‘-ready?“
Bei der ersten Paneldiskussion zum Schwerpunkt der Konferenz durften wir unser eigenes kleines Exzellenzcluster auf der Bühne begrüßen. Geleitet von Matthias Stier (Deutsches Technikmuseum) diskutierten die Berliner ‚KI‘-Expert:innen Clemens Neudecker (Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz), Sebastian Ruff (Stiftung Stadtmuseum Berlin), Cornelia Thiele (Stiftung Berliner Mauer) gemeinsam mit Matthias Stier über ihre Erfahrungen und Einschätzungen zum Einsatz von ‚KI‘ in Kulturerbeeinrichtungen. Oder wie Matthias es selbst sagte: „Was geht bei euch mit ‚KI‘?“ Seine Arbeitshypothese: „alle Kultureinrichtungen werden über kurz oder lang irgendwas mit KI machen, auf unterschiedlichsten Ebenen!“
Bei allen vier Panelist:innen geht es beim Einsatz von KI primär um Produktivität und Erleichterung oder Verbesserung eigener Arbeitsschritte.
Bei der Stiftung Stadtmuseum Berlin gibt es laut Sebastian Ruff verschiedene praktische Ansätze: Einerseits die produktive Nutzung von Copilot (Microsoft 365) bei der täglichen Arbeit, andererseits die konkrete Zusammenarbeit mit Dienstleistenden wie dem Berliner Start up Aureka (Transkriptionssoftware, übrigens eine Ausgründung aus dem ZIB) für die Arbeit in der Sammlungserschließung. Die Nutzung von ‚KI‘ bezeichnet er als „Graswurzelbewegung, die profitiert von der generellen Akzeptanz der Leitung“, denn „wir haben alle die Pflicht, uns mit dem Thema zu beschäftigen, um eine informierte Haltung zu Chancen und Risiken zu haben.“
Clemens Neudecker sagt „übrigens auch lieber Maschinenlernen statt ‚KI‘, weil ich diesen Begriff so schwierig finde.“ Ja, es ist schwierig mit diesen Marketingbegriffen. Die Stabi nutzt ‚KI‘ für ‚das Übliche‘, das nun ein bisschen schneller und/oder qualitativ ein bisschen besser passiert. ‚Das Übliche‘ in Clemens‘ Stabi-Alltag? Digitalisieren und Erschließen. „das, was dort an Informationen oder Objekten enthalten ist, zu erkennen und das […] recherchierbar als Datenset für die wissenschaftliche Forschung lesbar bereitzustellen“, denn die ‚KI‘ sei immer nur so gut wie ihre Daten.
In der Stiftung Berliner Mauer, vertreten von Cornelia Thiele, wird ‚KI‘ im Rahmen der eigenen und institutionellen Ressourcen ausprobiert, bspw. in der Text- oder Bild-Produktion. Seit 2024 nutzt die Stiftung Berliner Mauer ebenfalls die Transkriptionssoftware von Aureka (s.o.), um Zeitzeug:innen-Interviews zu transkribieren und zusammenzufassen, mit der Zielsetzung, diese Interviews für die Öffentlichkeit besser zugänglich zu machen. „Wir sind als Institution der historisch-politischen Bildung natürlich auch aufgerufen und verantwortlich dafür, uns mit diesen Themen, die die Gesellschaft gerade beschäftigen, auseinanderzusetzen. Wie gehen wir also um mit ‚KI‘-produzierten Inhalten, die in Zukunft auf uns zukommen? Wie setzen wir solche Dinge in unsere Bildungsarbeit ein? Wie vermitteln wir auch eine gewisse Kompetenz im Umgang mit solchen Inhalten?“ und ganz wichtig: „Was nicht heißt, dass wir jeden Trend und jede Kleinigkeit, die neu auf dem Markt ist, mitmachen müssen, sondern dass wir eben informiert handeln können.“
Und sind die Daten nun „‘KI‘-Ready?“ Die kurze Antwort aus der Runde lautet: Ja, aber… nicht alle Daten sind es, mehr ‚gute‘ Daten (z.B. durch digiS-Förderprojekte, die ja per se gute Daten produzieren) sind wünschens- und erstrebenswert.
Die Diskussion befasst sich neben den Einblicken in die eigene Arbeit mit ‚KI‘ in der Sammlungserschließung, mit den Themen Fehlerkultur, dem ökologischen Fußabdruck, Nachhaltigkeit und der Fage, wie man als Einrichtung denn nun „KI-kompetent“ werden kann. Aber hört einfach selbst rein: Die Paneldiskussion „KI und Kulturerbe in Berlin“ wurde zu einer Podcast-Sonderfolge verarbeitet.
Minute Madness
Wie es bereits Tradition bei unseren Jahreskonferenzen ist, stellten die Projektpartner:innen 2024 kurz und prägnant ihre Projekte im Rahmen der Minute Madness vor. Ein Kommentator aus dem Chat vermutete gar, diese sei selbst schon ‚Kulturgut‘. Eine vertiefte Diskussion zu den Projektinhalten war während der Postersession nach der Mittagspause möglich.
Nun wieder im Videoformat (das richtige Video startet etwas später bei 00:03):
Mittagspause: f(x)=cos(🎲🎲 / 18 × π)
Vor der Postersession konnten sich unsere Teilnehmer:innen vor Ort noch in der Pause stärken und sogar Gewinne oder Trostpreise an unserem neuen Glücksrad abstauben.
Wir danken der Deutschen Digitalen Bibliothek, museum-digital, dem ZIB, der Tempelhof Projekt GmbH, FHXB Friedrichshain Kreuzberg-Museum, dem Stadtmuseum, der Stiftung Berliner Mauer, dem Buchstabenmuseum und dem Deutschen Technikmuseum fürs Zurverfügungstellen von Gewinnen! Alternativ hätten wir wohl angefangen, unsere Staubfänger:innen aus dem Büro zu verlosen 😉
„NoFake“ – Von Mis-, Des- und Falschinformationen
„Ich habe mitbekommen, dass die Mittagspause überzogen hat und das ist tendenziell immer ein gutes Zeichen für lebhafte Diskussionen und Netzwerke,“ läutete Caroline Lindekamp ganz korrekt den zweiten Teil der Konferenz ein.
Nach dem Austausch in der Pause und der Postersession ging es am Nachmittag mit der Keynote wieder zurück zum Thema ‚KI‘. Mit der Vorstellung verschiedener Projekte und zentral dem BMBF-geförderten Vorhaben „No Fake“ als neuer Plattform des Correctiv-Faktenforums gab sie uns einen Einblick in die Erkenntnisse und Erfahrungswerte, die sie als Journalistin zu den Themen Desinformation und ‚KI‘ gesammelt hat.
Ziel des NoFake-Projektes ist es, Bürgerjournalist:innen mithilfe eines ‚KI‘-gestützten Assistenzsystems in ihrer Arbeit zu unterstützen. In einer „Kombination aus Automatisierung und journalistischer Expertise über eine Plattform für Faktenchecks, die die Mitarbeit eines möglichst großen Kreises an Nutzerinnen und Nutzern ermöglicht.“
Aus der Keynote haben wir gelernt:
- „Fake News“ am besten einfach aus dem Vokabular streichen: Es gibt Mis-, Des-, Falschinformation.
- (Auch) die neuen KI-Tools befeuern die Desinformationsproblematik, „weil es […] viel einfacher wird im glaubhaften Gewand Desinformationen zu produzieren und zu verbreiten.“
- Denn: Desinformation schlägt einen relativ einfachen Weg aus den vielen Behauptungen, bspw. Im Internet, vor.
- Es gibt Prebunking und Debunking
„Erstmal Informationen checken, statt Desinformation teilen. Aber ich glaube, das wissen wir eh schon alle“, so Lindekamp.
Hier gibt es den ganzen Vortrag zum Nachgucken:
modern problems require modern solutions…?
Nach der Keynote gesellten sich Johannes Bernhardt (Kulturhistoriker, ehem. Digitalmanager, Uni Konstanz) und Maren Burghard (Digitalkuratorin) zu Caroline Lindekamp auf die Bühne im Hörsaal des ZIB. Frank Seeliger (Leiter der Hochschulbibliothek Wildau) moderierte das zweite Podium zu ‘KI‘ und Kulturerbe, das sich zu einer lebhaften und multiperspektivischen Diskussion entwickelte, die über den Berliner Tellerrand hinausging.
Maren Burghard hat mittlerweile drei KI-Ausstellungen unter dem Label „New Realities“ in Kooperation mit dem Museum für Kommunikation mitgestaltet, die erste davon im Juni 2023: „da war die generative ‚KI‘ komplett neu. Die Verwirrung war groß, teilweise wurde diskutiert, ob ‚KI‘ erstmal verboten werden soll.“ – Aus den Ausstellungserfahrungen nahm sie mit, dass Medienkompetenz zum Wichtigsten gehört, was ein Museum im Kontext von ‚KI‘ vermitteln sollte. Dies beinhaltet, Arbeit „an der Quelle“ zu leisten: zu vermitteln, wie ‚KI‘-generierter Inhalt zu erkennen ist, diesen kritisch zu hinterfragen, Fehler zuzulassen sowie offen mit diesen umzugehen.
Caroline Lindekamp griff den Begriff Deepfakes erneut auf auf und erinnerte uns daran, ‚KI‘-generierte Inhalte nicht mit diesen gleichzusetzen, weil dies eine neue Technik-Skepsis schüren kann. Sie betonte, dass es „mächtige Tools“ seien, „und da, wo ich nicht weiß, ob ich sie kontrollieren kann, sollte ich zugunsten meiner Standards die Finger von lassen.“ Das Vertrauen des Publikums in Kulturerbeeinrichtungen dürfe nicht verspielt werden; ein Museum sollte seine Besuchenden nicht unterschätzen.
Johannes Bernhard kritisierte einen aus dem Analogen übernommenen „kompletten Objektfetisch, komplettes Kleben an den Objektdaten“ und das Festhalten an diesen Strukturen. Er möchte mehr mit Nutzendendaten, -bedürfnissen und -fragen arbeiten, weil es dort mit der ‚KI‘ erst wirklich interessant werde. Auch Caroline Lindekamp freut sich, „wenn jemand anders sich die Mühe macht, Informationen oder Inhalte für mich zu kuratieren und mir auch Dinge vorschlägt“ – als medienbildendes ‚Breaking my Bubble‘-Feature, um es mit Bernhardts Worten festzuhalten.
Die gesamte Podiumsdiskussion kann hier nacherlebt werden:
12 Sekunden Pause – und Tschüss!
Nach einem so erkenntnisreichen Tag konnten sich unsere Gäste bei einem Getränk über die gemeinsamen Erfahrungen austauschen und auch noch offene Fragen mit unserem Team und einigen der Referent:innen diskutieren.
Wir danken allen Teilnehmenden für die lebhaften Diskussionen und den inspirierenden Austausch. Vernetzt geht vieles deutlich leichter, das merken wir Jahr für Jahr aufs Neue!